Es ist ein kalter Apriltag, an dem ich das Licht der Welt erblicke. Ich hätte ein Junge werden sollen, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre. Ein Wunsch, der ihm weder an meinem Geburtstag noch später erfüllt wird, denn ein Sohn wird sich nie einstellen. Der Wunsch meiner Mutter hingegen wird Realität. Mein Leben am Land mit den 3K (Kirche, Küche, Kinder) scheint vorgezeichnet, aber es wird nicht so kommen. Ich bin die Erste in der Familie, die studiert, die Erste, die nach Wien zieht, die Erste, die eine eigene Wohnung hat und auch die Erste, die sich scheiden lässt. So etwas hat es in meiner Familie bisher nicht gegeben, weder für die Frauen noch die Männer.
Wer oder was bin ich? Es ist eine komplexe Frage, denn ich habe viele Rollen und es gibt viele unterschiedliche Einflüsse, die bedeutsam sind. Ein wichtiger Aspekt in meinem Leben ist der Minimalismus und mein Weg zum Minimalismus beginnt schon sehr früh.
Wegziehen
Im Alter von vier oder fünf Jahren entschließe ich mich, meinen Heimatort zu verlassen. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ich im Garten meiner Nachbarinnen stehe und Blumen in ihre Teile zerlege. „Hier werde ich nicht bleiben“, sage ich zu mir selbst. Auch 50 Jahre später habe ich diese Blumen noch genau vor Augen. Sie heißen Tränendes Herz.

Viele Jahre später sehe ich den Film „Der Knochenmann.“ Am Ende gibt es eine Szene, wo der Detektiv Brenner (gespielt von Josef Hader) nach einem anstrengenden Einsatz nach Wien zurückfährt. Auf der Südosttangente bittet er seinen Freund am Pannenstreifen zu halten. Er steigt aus und in der Hand hält er eine Plastiktüte, wo sein abgetrennter Finger auf schmelzenden Eiswürfeln wartet, wieder angenäht zu werden. Genussvoll atmet er die Luft der vorbei donnernden Lastwagen und Autos ein und sagt: „Endlich zu Hause!“ Genauso fühle ich mich, als ich in Wien ankomme. Und genauso fühle ich mich immer wieder, wenn ich nach Wien zurückkehre. Diese Stadt ist meine Heimat.

Lernen
Im Vorschulalter ist es schwierig, allein ein neues Leben an einem anderen Ort zu beginnen. Das wird noch einige Jahre dauern. Die Zeit dazwischen vertreibe ich mir mit Lernen und Lesen. Denn eines ist mir klar und das lange bevor ich überhaupt weiß, was Feminismus ist: Für ein unabhängiges und eigenständiges Leben brauche ich eine gute Ausbildung. Um mich herum höre ich Aussagen wie: „Mädchen brauchen gar keine weiterführende Schule besuchen – sie heiraten sowieso und bekommen Kinder!“ Und wenn Ausbildung, dann am besten eine Haushaltsschule.
Er hod a klanes Häusl in der greanen Au
Er hod a guten Posten und a dicke siaße Frau …
singt Arik Brauer.
Für mich ist klar: Ich werde diese Frau nicht sein, so sehr sich das meine Eltern auch wünschen. So ein Leben will ich nicht!

Später singe ich mit Ina Deter:
Ich sprüh’s auf jede Häuserwand
Ich such‘ den schönsten Mann im Land …
Dass ich den in meiner Umgebung schwer finden werde, ist mir auch klar. Meine Ideen sind hier nicht besonders populär.
Ich will raus aus der Enge einer konservativen kleinbürgerlichen und -bäuerlichen Umgebung. Am besten geht das mit leichtem Gepäck, einer guten Ausbildung und Geld am Konto. Das kleine Samenkorn Minimalismus ist gelegt und wächst zusammen mit meinem Wunsch wegzugehen, lange bevor ich diesen Begriff überhaupt zum ersten Mal höre. Ich konzentriere mich fortan auf Bildung und Kapital.

1969 komme ich in die örtliche Volksschule. Ich bin sehr wissbegierig. Ich stelle meinen Lehrern ständig viele „warum“-Fragen und beschäftige mich mit jedem Begriff, der für mich neu ist. Der Religionslehrer erzählt uns mit bewegter Stimme von „Gnade“. Ich will wissen, was das genau ist. Wir sollen Adam, Eva und die Schlange zeichnen. Ich will wissen, warum es schlecht sei, Gut und Böse erkennen zu wollen. Er erzählt uns die Geschichte von David und Bathseba. Ich will wissen, was aus Davids erster Frau geworden ist. Er spricht von der Erlösung am Kreuz. Ich will wissen, wie genau wir nun erlöst sind. Meine Mutter wird in die Schule zitiert. Das Kind fragt zu viel. Davon lasse ich mich jedoch nicht aufhalten. Auch wenn analytisches Denken hier mit Misstrauen betrachtet wird, genau das ist und bleibt meine Stärke.

Lesen, lesen und nochmals lesen
In meiner Familie wird nicht gelesen. Aus sehr unterschiedlichen Gründen. Im Haushalt gibt genau ein Buch: Das Neue Testament, in dem auf der Seite 1 die Namen meiner Eltern und ihr Hochzeitsdatum angeführt ist. Sie haben es anlässlich ihrer Heirat geschenkt bekommen.

Ich lese grundsätzlich alles, was die örtliche Bücherei zu bieten hat. Jugend- und Liebesromane langweilen mich rasch und daher wende ich mich schon in sehr jungen Jahren der Kriminalliteratur zu.
Bei diesem Genre kann ich nach Herzenslust den Fragen nach dem „Wer“, „Wie“ und vor allem dem „Warum“ nachgehen und meine analytischen Fähigkeiten schärfen.
Kriminalliteratur
Ich beginne mit Agatha Christie. Auf den ersten Blick erscheint ihre Protagonistin Jane Marple wie eine harmlose alte Jungfer und gar nicht wie eine Emanze. Auf den zweiten Blick sie ist aber weitaus scharfsinniger und tiefgründiger als erwartet. Und genau das ist ihre Stärke, zusammen mit ihrer Superwaffe, dem Strickzeug.

Inspektor: Ich glaube, nur ein Weibergehirn und bloß auch nur Ihres konnte auf sowas kommen!
Miss Marple: Es mag Sie irritieren, Herr Inspektor, dass weibliche Gehirne manchmal
dem männlichen überlegen sind, doch Sie müssen sich nun leider damit abfinden!Agatha Christie: Vier Frauen und ein Mord
Ebenso wie Jane Marple ist auch die Privatdetektivin Kinsey Millhone ohne Anhang und daher flexibel. Besitztümer würden sie nur stören und wie Ballast an ihr kleben.
Mein Apartment ist klein.
Ich habe keine Haustiere.
Ich habe keine Zimmerpflanzen.
Ich bin viel unterwegs, und da lasse ich nicht gern etwas zurück.Sue Grafton: A wie Alibi
Ein großes Haus, voll mit Sachen, ist von Kindheit an nicht mein Wunsch und wird es wohl auch in Zukunft nie auf mein Visionboard schaffen. Schon in jungen Jahren ist mir klar: Je mehr Besitz, desto mehr Zeit geht in die Verwaltung dieses Besitzes auf. Ich möchte nur Dinge, die mir sowohl Freude bereiten als auch nützlich sind und wenig von meiner Zeit beanspruchen. Die einer kritischen Kosten-Nutzen-Analyse standhalten. Da kann die Werbung noch so viele Milliarden ausgeben, eines glaube ich nicht: Dass man Emotionen käuflich erwerben kann.
Auf die Frage, warum er (außer einer faltbaren Zahnbürste und den Kleidern am Leib) keine Besitztümer hat, antwortet Jack Reacher:
Slippery slope.
I carry a spare shirt, pretty soon I’m carrying spare pants.
Then I’d need a suitcase.
Next thing I know, I’ve got a house and a car and a savings plan and I’m filling out all kinds of forms.Lee Child: Bad Luck And Trouble
Im Gegensatz zu Jack Reacher werfe ich meine Kleidung nach Gebrauch nicht weg. Ich besitze eine Waschmaschine. Aber den Grundsatz dahinter verstehe ich gut: Je mehr man hat, desto mehr Ballast schleppt man mit sich herum, desto weniger flexibel wird man.
Habgier und Streit: Verbrechen in der Nachbarschaft
Ich bin fünf Jahre alt und meine Mutter hat die Kronen Zeitung gekauft. Das ist etwas Besonderes. Normalerweise gibt es bei uns keine Zeitung. Aber Mord und Selbstmord haben es auch in unseren kleinen Ort geschafft und damit in die auflagenstärkste Zeitung Österreichs, die meine Mutter nun in ihren Händen hält. Das Opfer und ihr Mörder sind meiner Mutter gut bekannt, waren sie doch erst ein paar Tage zuvor bei uns im Haus.
Familienstreitigkeiten. Jung und Alt. Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, dann ist Familienzwist zwischen den Generationen ein allgegenwärtiges Thema. Es geht dabei immer um Macht und Besitz, um einen Kampf zwischen Jung und Alt. „Die Alten“ übergeben „den Jungen“ Haus und Hof. Aber das Zusammenleben funktioniert in den wenigsten Fällen. Es wird von beiden Seiten viel erwartet. Hilfe, Dankbarkeit, Pflege, Geld, Bewahrung der Traditionen, Unterordnung.

Im Dorf meiner Kindheit ist Besitz alles. Um zu besitzen, bleibt man. Eher wird sogar das eigene Leben ruiniert, als diesen Besitz zurückzulassen. Es ist undenkbar, zu gehen. „Wohin soll ich denn gehen?„, fragen sich außerdem viele Frauen in meiner Kindheit und bleiben Jahr um Jahr, bis es zu spät ist. Viele dieser Frauen haben kein Geld und keine Ausbildung, dafür einen gewalttätigen Ehemann, eine Schar Kinder, pflegebedürftige Schwiegereltern und die schwere Arbeit am Bauernhof. Sie arbeiten von Früh bis Spät, um am Ende mit leeren Händen dazustehen oder mit einem Almosen abgespeist zu werden.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann ist das eine enge und starre Welt, obwohl auf den ersten Blick alles so idyllisch ausschaut.

Minimalistin aus Überzeugung
Die Last des Besitzes, den ich in meiner Kindheit so stark gespürt habe, ist ein wesentlicher Motivator, Dinge, aber auch Verpflichtungen, die mich beschweren, erst gar nicht in mein Leben zu lassen oder mich leichten Herzens davon zu trennen. Minimalismus ist für mich dabei etwas sehr Individuelles. Es geht mir nicht darum, nur eine gewisse Anzahl von Dingen besitzen zu dürfen oder das Leben mit möglichst wenig Sachen zu fristen. Für mich ist es wichtig, dass die Gegenstände, die ich habe, mir dienen und nicht umgekehrt; dass sie mir eine gute Zeit geben und mir nicht die Lebenszeit, unser wertvollstes Gut, wegfressen.
Das Zitat aus dem Film „Fight Club“
Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.
habe ich für mich folgendermaßen abgewandelt:
Ich habe nur Dinge, die ich brauche und die mir das Leben leichter und schöner machen.
