Dienstag, der 12. September 2023 ist der 255. Tag des gregorianischen Kalenders, somit bleiben 110 Tage bis zum Jahresende. Heute vor 93 Jahren wurde meine Mama geboren. Der 12. September 1930 ist ein Freitag und Mama hat diesen Tag immer als schlechtes Omen für ein hartes und entbehrungsreiches Leben gesehen. An einem Freitag geboren zu sein, war damals im tief katholischen Mühlviertel (Oberösterreich) schon einmal ein schlechter Start, denn jeder Freitag erinnerte an den Karfreitag und war ein Tag der Trauer und des Fastens.
Mama ist das fünfte Kind (von insgesamt acht Kindern) und wird in eine arme Bauernfamilie hineingeboren.
Zeitungen oder Radio gibt es in ihrer Familie nicht; ja nicht einmal Schuhe für alle Kinder. Eine Tageszeitung kostet damals 7 Groschen. Das Leben in ihrer Familie ist geprägt von Arbeiten und den „Lehren“ der katholischen Kirche. Wien ist so abwegig weit weg, so wenig erreichbar, wie für mich heute ein anderes Sonnensystem.
Mama wird in die Zeit der Weltwirtschaftskrise hineingeboren, die mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 einen ersten Höhepunkt erreicht. Die Menschen haben mit einem starken Rückgang der Industrieproduktion, des Welthandels, der internationalen Finanzströme, mit Bankenkrisen, der Zahlungsunfähigkeit vieler Unternehmen und massenhafter Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Soziales Elend und politische Krisen sind an der Tagesordnung.
Die Zeitungen berichten am 12. September 1930:
- dass ein amtsbekannter Gewalttäter Floridsdorf in Angst und Schrecken versetzt hat, indem er „zur Hetz“ auf Passanten schoss
- dass Professor Piccard plant, mit seinem Aluminiumluftfahrzeug in eine Höhe von 16.000 Metern aufzusteigen
- dass bei einer Straßenbahntragödie in Odessa fünf Menschen starben und 50 verletzt wurden
- dass bei einem Verfahren wegen Irreführung der Kranken, der Richter in zweiter Instanz „zugunsten des Apparats, der 77 Krankheiten heilt“ entschied
- dass am 7. September 1930 der 228. Dankesgottesdienst der Wiener Fleischhauergenossenschaft stattfand; zum Dank dafür, dass während des Pestjahres 1679 wie durch ein Wunder kein einziger Fleischhauer an der Pest starb
- dass in Frankreich tongefilmt wird und in den Paramount Studios in Joinville bei Paris Tag und Nacht an der Herstellung von neuartigen Tonfilmen in verschiedenen europäischen Sprachen gearbeitet wird
Der 12. September ist nicht nur Mamas Geburtstag, sondern auch der Tag, an dem am Wiener Kahlenberg eine Schlacht entschieden wurde.
Am 12. September 1683, d.h. vor 340 Jahren besiegte ein deutsch-polnisches Entsatzheer unter der Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski die osmanische Armee und beendete die zweite Türkenbelagerung. Ich habe heute in der Früh schon die osmanische Armee gefeiert und eine gute Tasse Kaffee getrunken. Der Legende nach haben die Türken Kaffee in Wien zurückgelassen und somit kann man diese historische Schlacht auch als Beginn der Wiener Kaffeehauskultur ansehen.
Eine andere Legende besagt, dass Maria, die Mutter von Jesus, ihre schützende Hand über das Entsatzheer gelegt hatte und so den entscheidenden Beitrag zum Sieg geleistet hat. Daher ist der 12. September auch ein Marienfeiertag, nämlich Mariä Namen.
Der bäuerliche Kalender markiert Mariä Namen als den Abschluss des Sommers:
An Mariä Namen sagt der Sommer Amen.
Bauernregel
Amen sagt der Sommer heute definitiv nicht, denn es ist strahlend sonnig und heiß. Heute ist der heißeste Tag der Woche. Nur vorübergehend zeigen sich ein paar dünne Wolken. Der Wind ist schwach und die Temperatur klettert auf über 30 Grad. Das Wetter vor 93 Jahren war ein wenig kühler und trüber, aber immerhin erwartete man auch am 12.9.1930 Höchsttemperaturen von 22 Grad.
Ich mache mich auf den Weg zum Westbahnhof, um den 10:08 Zug nach Amstetten zu erreichen.
Am Bahnhof Amstetten werde ich abgeholt, denn die Verbindungen ins Mühlviertel sind so schlecht, dass darauf „verzichte“, endlos mit Schülerbussen in der Gegend herumzugondeln. Als ich ankomme, ist es schon Mittagszeit.
Mama ist mein riesengroßes Vorbild, was positives Denken und Resilienz betrifft. Aufgeben ist für sie keine Option. Trotz starker Sehbehinderung und gravierenden Problemen mit Rücken und Knie macht sie jeden Tag ihre Übungen und geht auch immer noch am Rollator, denn sie will jeden Tag ihre Bewegung machen.
Auch ihr gutes Aussehen ist ihr sehr wichtig und sie geht regelmäßig zum Friseur für ihre Dauerwelle. Jeden Freitag werden ihre Haare außerdem mit Lockenwicklern in Form gebracht.
Sie ist sehr am Weltgeschehen interessiert und hört viel Radio. Mit 93 Jahren ist ihr Verstand und ihr Erinnerungsvermögen so scharf wie eh und je. Sie wäre eine grandiose Mordermittlerin gewesen, wenn sie in einer anderen Zeit und in eine andere Familie hineingeboren wäre.
Mama ist sehr beliebt im Seniorenheim und im ganzen Mühlviertel und hat unglaublich viele Besucherinnen. Manchmal zu viele; denn eines kann sie überhaupt nicht: Nein sagen. Manchmal sage ich scherzhaft zu ihr, dass ich für sie eine Assistentin engagieren werde, die die Telefonate annimmt und die Besucherströme leitet.
Die Kapelle Maria Hilf ist von vier Winterlinden umgeben. Bei dieser Baumgruppe handelt es sich um ein wunderschönes Naturdenkmal. Aus der Distanz hat man den Eindruck, dass es sich um einen großen Baum handelt. Das habe ich auch als Kind immer geglaubt. Da die Nachmittagssonne unbarmherzig vom Himmel scheint, mache ich mich bald wieder auf in Richtung Seniorium.
Mama ist nach ihrem Mittagsschlaf wieder aufgewacht und macht sich bereit für das nachmittägliche Geburtstagsständchen, das das Pflegepersonal dem Geburtstagskind darbietet.
Später am Nachmittag gibt’s für uns noch leckere Brötchen mit Räucherlachs. Dazu trinken wir ein Glas Pfirsichspritzer, der Mama ausgezeichnet schmeckt. Ich habe ihn von einer Weinverkostung in Wolkersdorf mitgenommen und nehme mir vor, bald wieder einmal zum Weingut Rögner zu fahren. Räucherlachs und Prosecco sind für Mama und mich schon eine liebgewordene Tradition, die wir jedes Mal zelebrieren.
Wie immer, vergeht die Zeit so schnell und es ist Zeit zum Aufbruch.
Ich bin wieder am Bahnhof Amstetten und nehme den 18:31 Zug nach Wien. Der Bahnhof wirkt heute wie ausgestorben und auch im Zug finde ich ganz leicht einen Platz.
Zurück in Wien, arbeite ich noch ein wenig an der Premiere meiner neuen Blog-Serie, den Wohngesprächen. Die erste Wohngesprächige ist die Autorin Birgit Elke Ising, die uns in ihr Wolkenkuckucks-Schreibzimmer mitnimmt und großartige Ein- und Ausblicke gewährt.
Hier findest du ab dem 14.9.2023 die Wohngespräche: